Künstliche Intelligenz (KI) ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken und eine so selbstverständliche Begleiterin, dass man sie zum Teil kaum mehr wahrnimmt. Auch in der Medizin spielt KI eine zunehmend wichtige Rolle. Algorithmen erkennen Krebsmuster, erstellen bei Schlaganfällen Prognosen und unterstützen bei Operationen. Im Interview erläutert Prof. Dr. med. Hasan Kulaksiz, wie er KI in der Gastroenterologie und Hepatologie einsetzt und was die Vorteile für Patientinnen und Patienten sind. Die Gastroenterologie befasst sich mit den Krankheiten des Verdauungsapparates, die Hepatologie mit der Diagnostik und Behandlung von Krankheiten der Leber und Gallenwege.
Herr Prof. Kulaksiz, mit welchen Anliegen oder Beschwerden wenden sich Patientinnen und Patienten an Sie?
Das ist sehr unterschiedlich: Zum einen kommen Patienten zur reinen Vorsorge (Check-up) zu uns. Zum anderen kommen sie mit akuten oder chronischen Bauchschmerzen zur weiteren Abklärung. Manchmal sind die Bauchschmerzen von weiteren Symptomen wie Durchfall, Verstopfungen oder Blähungen begleitet.
Auch Tumorpatientinnen und -patienten kommen zu uns. Manche haben bereits eine Diagnose und lassen sich bei uns therapieren oder sie möchten eine Zweitmeinung einholen. Bei anderen Patienten erfolgt die Diagnose des gastrointestinalen Tumors durch uns, z.B. via Ultraschall, Endosonographie, Gastroskopie, Koloskopie, CT, PET-CT oder MRI. Alle Patienten werden in unserem Tumorboard interdisziplinär besprochen. Ist der Tumor im Anfangsstadium, haben wir die Möglichkeit, ihn endoskopisch zu entfernen. Ist der Tumor bereits fortgeschritten, werden Patientinnen und Patienten operiert bzw. onkologisch therapiert.
Wir behandeln auch Patientinnen und Patienten mit Leber- oder Gallenblasenerkrankungen. Patienten, die beispielsweise ein Gallensteinleiden haben. Gallensteine im Gallengang können wir in unserem Zentrum mittels ERCP (endoskopisch retrograde Cholangiopankreatikographie) entfernen.
Des Weiteren möchte ich erwähnen, dass wir Erkrankungen des Mikrobioms (Dysbiose) behandeln. Das Mikrobiom ist eine Bezeichnung für die Gesamtheit der Mikroorganismen, einschliesslich Bakterien, Viren und Pilze im menschlichen Körper. Es hilft nicht nur bei der Verdauung von Nahrung und der Aufnahme von Nährstoffen, sondern beeinflusst auch das Immunsystem und sogar die Stimmung des Patienten. Ein ausgeglichenes Mikrobiom trägt dazu bei, Krankheiten vorzubeugen und das Wohlbefinden zu fördern. Einige Faktoren wie Antibiotikaeinnahme, ungesunde Ernährung, Stress und Krankheiten können jedoch das Gleichgewicht des Mikrobioms stören. Dies kann zu verschiedenen gesundheitlichen Problemen führen, von Verdauungsstörungen bis hin zu allergischen Reaktionen und sogar zu psychischen Erkrankungen.
Bei welchen Untersuchungen setzen Sie KI ein und wie genau?
Unter anderem nutzen wir KI im Bereich Endoskopie. Die Endoskopie ist eine Untersuchungsmethode, bei der ein flexibles Rohr mit einer Kamera verwendet wird, um innere Organe oder Hohlräume des Körpers zu betrachten und zu diagnostizieren, ohne dass dabei invasive chirurgische Eingriffe erforderlich sind. Ein Schlüsselaspekt der KI-Anwendung in der Endoskopie liegt in der Früherkennung von pathologischen Veränderungen wie Darmpolypen. Die sogenannte CAD-Endo (Computer Aided Detection) ist eine Anwendung für die KI-gestützte Darmspiegelung / Koloskopie, die mithilfe künstlicher Intelligenz auf potenzielle Läsionen wie Darmpolypen, Adenome (fortgeschrittene Polypen) oder Tumore hinweist. Indem es die Erkennung von Läsionen unterstützt, trägt die KI dazu bei, die sogenannte Adenomdetektionsrate (Zahl der gefundenen Polypen) zu erhöhen. Dahinter steht die Absicht, die Qualität des Darmkrebs-Screenings und seine präventive Wirksamkeit gegen kolorektale Karzinome zu steigern. Die KI ermöglicht damit eine zeitnahe Intervention und verbessert die Chancen auf eine erfolgreiche Behandlung erheblich.
Gibt es weitere Bereiche der Anwendung?
Ja, während der Darmspiegelungen verwenden wir das Gerät ScopeGuide. ScopeGuide zeigt eine exakte 3D-Rekonstruktion der Position und Form des Endoskops im Darm. Da ScopeGuide keine Röntgenstrahlung für die Positionsbestimmung nutzt, kann es während der gesamten Untersuchung verwendet werden. Damit können wir viel leichter und besser das Ende des Dickdarms (Zökum) erreichen, auch bei schwierigen Darmverhältnissen.
Eine weitere KI-Anwendung ist die Kapselendoskopie. Sie ermöglicht die Untersuchung derjenigen Abschnitte des Dünndarms, die durch eine Magen- oder Dickdarmspiegelung gar nicht oder nur sehr schwer eingesehen werden können. Bei einer Kapselendoskopie schluckt der Patient eine kleine, kapselartige Kamera (so gross wie eine Vitaminpille), die während ihrer Passage durch den Verdauungstrakt Bilder aufnimmt, während sie durch ihn hindurchgeleitet wird. Diese Bilder werden drahtlos an ein Daten-Recorder übertragen, das der Patient während des Verfahrens bei sich trägt. Diese Bilder können wir abrufen und analysieren. Die Kapselendoskopie setzen wir primär bei Blutungen des Dünndarms und bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wie z.B. Morbus Crohn ein.
Erwähnen möchte ich zudem die Elastographie, bei der KI im Ultraschallgerät integriert ist. Die Ultraschall-Elastographie misst die Gewebselastizität der Leber von aussen und hat sich als zuverlässige Methode zur Beurteilung der Lebersteifigkeit entwickelt. Der Einsatz von KI in dieser Technologie verspricht eine Steigerung der Genauigkeit und Reproduzierbarkeit der Ergebnisse, was wiederum die Früherkennung und Überwachung von Lebererkrankungen verbessern kann. Bei dieser Anwendung können KI-Algorithmen Ultraschallbilder analysieren und charakteristische Muster von Leberfibrose und Leberzirrhose erkennen, die für das blosse Auge schwer zu identifizieren sind. Die Kombination von maschinellem Lernen und Bildverarbeitungstechniken ermöglicht eine automatisierte Quantifizierung der Lebersteifigkeit, wodurch die Diagnoseobjektivität gesteigert wird. Studien haben gezeigt, dass KI-gestützte Elastographie eine höhere Sensitivität und Spezifität bei der Erkennung von Leberfibrose im Vergleich zu konventionellen Methoden aufweist. Damit werden wir in Zukunft auf eine invasive Diagnostik wie die Leberbiopsie, zumindest in vielen Fällen, verzichten können.
Seit wann ist KI bei Ihnen etabliert?
KI-Anwendungen wie beispielsweise ScopeGuide und die Kapselendoskopie sind bei uns schon seit vielen Jahren im Einsatz, erst aber seit zwei Jahren in der Koloskopie (Darmspiegelung zur Früherkennung von Darmpolypen). Letzteres bieten noch nicht sehr viele gastroenterologische Praxen an, da es über das Standardprogramm hinausgeht. Als spezialisiertes Zentrum können wir mehr anbieten als das blosse Standardprogramm. Dazu zählen neben der KI-Anwendung in der Darmspiegelung die Kapselendoskopie, aber auch spezielle medizinische Untersuchungen wie die Endosonographie (Ultraschall vom Körperinneren) und die ERCP (Gallengangs- und Pankreasgangspiegelung).
Wie profitieren Patientinnen und Patienten vom Einsatz der KI?
Patienten profitieren vom Einsatz künstlicher Intelligenz in der Gastroenterologie und Hepatologie auf verschiedene Weisen:
- Frühere und genauere Diagnosen: KI kann dabei helfen, Anomalien auf Bildern von Endoskopien, Radiologien und Pathologien schneller und genauer zu identifizieren. Dies ermöglicht eine frühzeitige Diagnose von Krankheiten wie Darmkrebs und Lebererkrankungen, was die Behandlungschancen und Überlebensraten verbessern kann.
- Personalisierte Behandlungen: Durch die Analyse von grossen Datenmengen kann KI individualisierte Behandlungspläne entwickeln, die auf den spezifischen Bedürfnissen jedes Patienten basieren. Dies kann dazu beitragen, dass Behandlungen effektiver sind und weniger Nebenwirkungen verursachen.
- Verbesserte Überwachung und Nachsorge: KI kann kontinuierlich Patientendaten analysieren und Ärzte frühzeitig auf Veränderungen oder Probleme aufmerksam machen. Dadurch können Patienten eine bessere Überwachung und Nachsorge erhalten, was die Langzeitprognose und Lebensqualität verbessern kann.
- Effizientere Behandlungsabläufe: Durch die Automatisierung von administrativen Aufgaben und die Optimierung von Terminplanungen kann KI dazu beitragen, den Behandlungsablauf effizienter zu gestalten. Dies bedeutet weniger Wartezeiten für Patienten und eine insgesamt verbesserte Versorgung.
- Zugang zu Fachwissen: KI-gestützte Systeme können auch dazu beitragen, den Zugang zu Fachwissen zu verbessern, indem sie Ärzten Entscheidungsunterstützung bieten und auf aktuelle Leitlinien und Forschungsergebnisse zugreifen. Dies kann dazu beitragen, dass Patienten von den neusten Erkenntnissen und besten Praktiken profitieren.
Insgesamt kann der Einsatz von KI in der Gastroenterologie und Hepatologie dazu beitragen, die Patientenversorgung zu verbessern, die Behandlungsergebnisse zu optimieren und letztendlich Leben zu retten.
Gibt es auch Nachteile oder gar Gefahren? Könnte es sein, dass herkömmliche Verfahren bald ganz durch KI abgelöst werden?
Für den einzelnen Patienten gibt es im Allgemeinen keine Gefahren. Die Verwendung von Patientendaten zur Entwicklung und Verbesserung von KI-Systemen kann aber Datenschutz- und Sicherheitsrisiken mit sich bringen, insbesondere wenn sensible medizinische Informationen betroffen sind. Eine übermässige Abhängigkeit von KI-gestützten Systemen könnte dazu führen, dass Ärzte ihre klinische Urteilsfähigkeit und Erfahrung vernachlässigen, was zu einem Verlust an Fachwissen und Fähigkeiten führen könnte. Fragen im Zusammenhang mit ethischen Standards und der Verantwortung für die Ergebnisse von KI-Systemen müssen geklärt werden, insbesondere wenn es um Entscheidungen mit potenziell schwerwiegenden Auswirkungen auf die Gesundheit der Patienten geht.
Ob herkömmliche Verfahren vollständig durch KI abgelöst werden, ist schwer vorherzusagen. Während KI sicherlich viele traditionelle Ansätze ergänzen und verbessern kann, sind menschliche Expertise und Urteilsvermögen oft weiterhin unersetzlich. Es ist wahrscheinlicher, dass KI als Werkzeug zur Unterstützung von Ärzten eingesetzt wird, um Diagnosen zu verbessern und personalisierte Behandlungspläne zu entwickeln, anstatt herkömmliche Verfahren vollständig zu ersetzen. Beispiel: Die KI kann einen Darmpolypen erkennen, aber nicht alleine entfernen.
Wie sieht es mit den Kosten für solche Untersuchungen aus?
Für Patientinnen und Patienten fallen aktuell keine Mehrkosten an, wenn KI im Einsatz ist. Die Einführung von KI in diese Verfahren hat zunächst einmal nur Mehrkosten für den Arzt.
Die Einführung neuer medizinischer Technologien und Behandlungsmethoden, einschliesslich künstlicher Intelligenz, bildgebender Verfahren und personalisierter Medizin, kann aber im Allgemeinen mit hohen Investitionskosten verbunden sein. Daher werden die Gesamtkosten im Gesundheitswesen weiter steigen. Langfristig gesehen werden auch die Kosten für medizinische Untersuchungen und Behandlungen steigen.
Können Sie einen Ausblick wagen, wie und wie schnell sich dieses Feld weiterentwickelt?
In Bezug auf die Geschwindigkeit der Entwicklung ist zu erwarten, dass sich das Feld der KI in der Gastroenterologie und Hepatologie rasch weiterentwickeln wird. Neue Technologien und Algorithmen werden kontinuierlich entwickelt und verbessert, um die Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit von KI-gestützten Systemen zu steigern. Dies wird zu präziseren Diagnosen und personalisierten Behandlungsplänen führen.
In den kommenden Jahren wird die Integration von KI in die klinische Praxis zunehmen, da immer mehr Ärzte und medizinisches Fachpersonal mit KI-gestützten Systemen vertraut werden und diese in ihren Arbeitsablauf integrieren.
Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass die Einführung von KI in der medizinischen Praxis auch mit Herausforderungen verbunden sein wird, einschliesslich ethischer Fragen, Datenschutzbedenken und der Notwendigkeit einer angemessenen Schulung des medizinischen Personals. Dennoch wird der Einsatz von KI zweifellos dazu beitragen, die Qualität der Patientenversorgung zu verbessern und neue Möglichkeiten für die Behandlung von Magen-Darm-Erkrankungen und Lebererkrankungen zu eröffnen.
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Unser Spezialist
Prof. Dr. med. Hasan Kulaksiz ist Facharzt FMH für Gastroenterologie sowie Facharzt für Allgemeine Innere Medizin & Intensivmedizin. Er ist Partnerarzt an der Hirslanden Klinik im Park in Zürich.