Der exzessiven Nutzung des Smartphones verdanken wir ein neues Krankheitsbild. Warum es zu einem Handydaumen kommt und wie Sie ihm vorbeugen können.
Interview: Tages-Anzeiger vom 20. Februar 2022
Autorin: Susanne Stettler
Schmerzen und Entzündungen im Bereich der Daumengelenke sind eine Alterserscheinung. Diese Vorstellung gilt heute nicht mehr: Handchirurginnen und Ergotherapeuten bekommen es immer öfter mit sehr jungen Patientinnen und Patienten zu tun. Schuld daran ist das Smartphone. Wer täglich stundenlang am Handy hängt, wie wild spielt, tweetet, auf Instagram oder Tiktok rumhängt, dessen Daumen müssen ständig nach unten, oben, links oder rechts wischen, unzählige Male Druck aufs Display ausüben und auch sonst noch so einige Kunststücke vollführen.
Von der Natur nicht vorgesehen
Kunststücke deshalb, weil diese Bewegungen von der Natur nicht vorgesehen sind. «Unser Daumen ist evolutionstechnisch zur Unterstützung des Greifens und Zupackens gedacht und nicht, um ihn abzuspreizen und ständig zu dehnen, wie es vor allem beim einhändigen Bedienen der Smartphones und beim Tippen mit nur einem Daumen geschieht», erklärt Patrick Lötscher, Facharzt für Handchirurgie in der Praxis Leonardo der Hirslanden Klinik Birshof in Münchenstein BL.
Die Tatsache, dass die Smartphones immer grösser würden, verschärfe das Problem zusätzlich. Doch warum eigentlich? «Durch die sich wiederholenden und ungewohnten Bewegungen kommt es zu einem mechanischen Stress im Gewebe», erklärt Lötscher. «Die Zellen und deren Umgebung verändern sich und setzen verschiedene Stoffe frei, die zu einem Einwandern von Entzündungszellen ins Gewebe führen. Die Folge davon ist eine Reizung der Sehnen beziehungsweise eine Sehnenscheidenentzündung.»
Zusammenhang erwiesen
Mehrere Studien haben den Zusammenhang zwischen übermässigem Smartphone-Gebrauch und Entzündungen nachgewiesen. Betroffen sind vor allem Sehnen des ersten Strecksehnenfachs (kurzer Daumenstrecker, langer Daumenspreizer), aber auch andere Daumensehnen sowie die Daumenballenmuskulatur.
Interessanterweise wurde das Phänomen erstmals bereits im Jahr 1990 beschrieben, also lange bevor das erste Smartphone auf den Markt kam. Damals nannte man es «Nintendinitis» – eine Kombination aus den Begriffen «Nintendo», dem Namen einer Spielkonsole, und «Tendinitis» für Sehnenentzündung.
Wenn jemand andere Finger als den Daumen fürs Tippen und Wischen benutzt, können sich auch dort Beuge- und Strecksehnenentzündungen entwickeln. Patrick Lötscher: «Durch bestimmte Haltungen und Positionen der Hand können überdies vorübergehend neurologische Symptome wie Einschlafen der Finger oder Taubheitsgefühle auftreten.»
Die typischen Handydaumen-Patienten sind zwischen 15 und 30 Jahre alt. «Wahrscheinlich gibt es jedoch eine hohe Dunkelziffer», erklärt der Mediziner. «Vermutlich leiden sehr viele Menschen an den Beschwerden eines Handydaumens, aber nur bei wenigen sind diese so ausgeprägt, dass sie einen Handchirurgen aufsuchen müssen.»
Meist bestehe eine Kombination von auslösenden Tätigkeiten wie Schreiben am PC, monotonen manuellen Arbeiten und dergleichen. Kaum jemand gebe gerne zu, dass er oder sie übermässig lange am Handy hänge. «Wir behandeln Sehnenscheidenentzündungen sehr häufig, Patienten mit einem isolierten Handydaumen sind aber eher selten», so der Handchirurg. «Menschen mit Überlastungsschmerzen sind in der Regel zwischen 60 und 70 Jahre alt und haben ein Leben lang hart mit den Händen gearbeitet.»
Ab 100 Whatsapps pro Tag haben fast alle Schmerzen
Die Frage, wie intensiv jemand tippen muss, um sich einen Handydaumen einzuhandeln, lässt sich nicht eindeutig beantworten, weil viele individuelle Faktoren eine Rolle spielen. Im Rahmen einer australischen Studie aus dem Jahr 2019 entwickelten beim Schreiben von weniger als 50 Whatsapps täglich nur 16,7 Prozent der Testpersonen Entzündungsschmerzen. Bei 50 bis 100 Nachrichten waren es aber schon 67,2 Prozent und bei 100 bis 200 sogar 89,7 Prozent. Doch nicht allein die Häufigkeit des Tippens ist ausschlaggebend, sondern auch die Druckkraft, die jemand aufwendet. Je mehr von beidem, desto höher ist das Risiko für einen Handydaumen.
Ist das Unglück erst einmal geschehen, gilt es, die Entzündung und die Schmerzen zu bekämpfen. Die erste Massnahme ist Schonung beziehungsweise die Reduktion des Handygebrauchs. «Genügt das nicht, sind entzündungshemmende Substanzen und/oder ergotherapeutische Massnahmen notwendig, um Muskeln, Faszien und Bindegewebe zu lockern», sagt Patrick Lötscher.
«Weitere Optionen sind Kinesio-Tapes, eine kurzzeitige Schienen-Ruhigstellung oder Ultraschallbehandlungen. Bei stark fortgeschrittenen Sehnenscheidenentzündungen können auch Kortisonspritzen helfen.» Wenn das alles nichts oder nur ungenügend nützt und sich das Sehnenfach am Handgelenk massiv verdickt hat, braucht es eine Operation: Dabei wird ambulant und in Lokalbetäubung das Sehnenfach erweitert.
Die Handygeneration von heute – die Arthrosepatienten von morgen?
Seit Jahren beobachten Handspezialisten einen stetigen Anstieg der Fälle von Fingergelenksarthrosen, vor allem am Daumensattelgelenk. Diese Entwicklung ist einerseits dem Umstand geschuldet, dass die Menschen in der Schweiz immer älter werden. Andererseits spielen auch erbliche Faktoren, die Stabilität der Bänder sowie erlittene Knochenbrüche eine Rolle bei der Entstehung von Arthrose.
Da stellt sich die Frage: Ist die exzessive Handynutzung ebenfalls ein Risikofaktor für Arthrose? Dazu Experte Lötscher: «Das ist wissenschaftlich nur schwer nachweisbar. Trotzdem scheint es logisch, dass die unnatürlichen Bewegungen zu mechanischem Stress in den Gelenken führen und zur Knorpelabnützung und schliesslich zur Arthrose beitragen können.»