Multiple Sklerose – Krankheit der tausend Gesichter
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Multiple Sklerose, kurz MS, ist die häufigste chronisch-entzündliche Erkrankung des Nervensystems. Als Autoimmunerkrankung richtet sich das körpereigene Abwehrsystem gegen die eigenen Nervenzellen. In den meisten Fällen verläuft die Krankheit in Schüben, wobei die Symptome und der Verlauf bei jedem Patienten individuell betrachtet werden müssen. Man spricht daher auch von der Krankheit der tausend Gesichter. Bis heute ist die Multiple Sklerose nicht heilbar. Mit modernen Medikamenten lassen sich die Häufigkeit und die Schwere von MS-Schüben aber reduzieren, und eine mögliche Behinderung kann herausgezögert werden. Entgegen einer weitverbreiteten Annahme, landen MS-Erkrankte nicht zwangsläufig im Rollstuhl.
In der Schweiz leiden pro 100 000 Einwohner etwa 110 Menschen an MS, weltweit sind es 2,5 Millionen Patienten. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Oft beginnt die Erkrankung im jungen Erwachsenenalter zwischen dem 20. und dem 45. Lebensjahr, nur sehr selten vor der Pubertät oder nach Sechzig.
Bei MS-Patienten ist die körpereigene Immunabwehr fehlgeleitet und richtet sich gegen körpereigene Strukturen im Bereiche des zentralen Nervensystems, also gegen das Gehirn, das Rückenmark und die Sehnerven. Es kommt zu einer Entzündung, welche gegen die Hüll- und Isolierschicht der Nervenfasern (Myelinscheide) gerichtet ist. Bei einem Verlust der Myelinschicht können die Nervenfasern elektrische Impulse nicht mehr schnell genug weiterleiten. Die Folge sind Ausfälle der betroffenen Nervenfasern, zurück bleibt vernarbtes Gewebe.
Die Ursachen von MS sind bislang nicht vollständig geklärt. Die Multiple Sklerose ist aber keine Erbkrankheit, bestimmte Variationen treten bei Betroffenen lediglich häufiger auf als bei Gesunden. Menschen in nördlichen Breitengraden haben ein höheres Erkrankungsrisiko als jene in südlichen Regionen. Weiter werden Infektionen als mögliche Krankheitsursache diskutiert. Die Hypothesen zur Entstehung von MS sind zahlreich, es scheinen viele Faktoren dazu beizutragen.
Welche Symptome beim jeweiligen Patienten auftreten, hängt davon ab, welche Körperareale von den betroffenen Entzündungsherden im zentralen Nervensystem (ZNS) versorgt werden. Häufige Erstssymptome sind Sehstörungen mit Verschwommen- und Nebelsehen, als Ausdruck einer Entzündung des Sehnervs, und Gefühlsstörungen wie Taubheit. Sind die Beine betroffen, wird das Gehen oft unsicher. Weitere Krankheitszeichen können Schwindel, Doppeltsehen und Lähmungen sein. Besonders stark beeinträchtigt ist die Lebensqualität, wenn die Blasen- oder die Sexualfunktion in Mitleidenschaft gezogen wurden. Manche Patienten entwickeln begleitend behandlungsbedürftige Depressionen.
Nicht nur die Symptome sind vielfältig, auch der Krankheitsverlauf unterscheidet sich individuell, vor allem im Bezug darauf, wann und wie stark die Beschwerden auftreten. Man unterscheidet zwei wesentliche Verlaufsformen: Einerseits den schubförmig remittierenden Verlauf, bei dem die Symptome sich rasch verschlechtern und sich mehr oder weniger zurückbilden. Andererseits den chronisch progredienten Verlauf, bei dem die Symptome ohne Schübe nach und nach zunehmen. 85 – 90 % der Patienten leiden an einer schubförmigen Verlaufsform.
Für eine gesicherte Diagnose von Multipler Sklerose sind verschiedene Abklärung nötig: Die Magnetresonanztomographie (MRI) liefert Schnittbilder von Gehirn und Rückenmark, sodass sich ermitteln lässt, wo genau die Vernarbungsherde sitzen und wann sie auftreten. Eine Untersuchung des Nervenwassers (Liquor) stützt die entzündliche Ursache der bildlich dargestellten Vernarbungen. Elektrophysiologische Untersuchungen der einzelnen Hirnfunktionen können Schäden in den Nervenbahnen von Gehirn und Rückenmark aufzeigen.
Die Multiple Sklerose ist bis heute nicht heilbar. Die Therapie zielt darauf ab, die Unabhängigkeit der Patienten und deren Lebensqualität zu erhalten. Seit der Entschlüsselung der MS als Autoimmunerkrankung spielen – neben der Symptombehandlung – auch in das Immunsystem eingreifende (immunmodulierende) Therapien eine wesentliche Rolle. Sie können die Schwere und die Häufigkeit der Krankheitsschübe eindämmen und eine Behinderung der Patienten nach Möglichkeit abwenden. Hierfür stehen seit Anfang der 90er-Jahre sogenannte Beta-Interferone und die Eiweisssubstanz Glatirameracetat zur Verfügung. Diese Substanzen vermögen den Krankheitsverlauf effektiv zu mildern. Gefährliche Nebenwirkungen bestehen nicht, jedoch sind die Behandlungen nicht selten unkomfortabel: Die Substanzen müssen gespritzt werden und als lästige Begleiterscheinungen können nach der Injektion grippeähnliche Beschwerden auftreten.
Patienten mit einer sehr aktiven MS können nur unzureichend von den oben erwähnten Substanzen profitieren. Für sie stellt das seit 2006 zugelassene Medikament Natalizumab eine Therapiealternative dar. Es wird einmal im Monat als Infusion verabreicht und verhindert den Übertritt von Abwehrzellen ins Gehirn. Die Behandlung ist beeindruckend effektiv, sie beeinträchtigt jedoch die Abwehrfunktion des Immunsystems im Gehirn, sodass in seltenen Fällen eine durch einen Virus ausgelöste, schwere Hirnentzündung auftreten kann (Progressive multifokale Leukenzephalitis). Diese Komplikation ist zwar mit 111 Fällen bei 75 000 behandelten Personen sehr selten, aber schwerwiegend.
Seit 2011 ist mit Fingolomid die erste «MS-Tablette» auf dem Markt. Die neue Substanz, welche die Abwehrzellen in den Lymphknoten zurückhält, hat sich in Studien mit über 4 000 Patienten als wirksam erwiesen. Da durch die Behandlung das Immunsystem unterdrückt wird, besteht aber ein erhöhtes Risiko für Infektionen, Hautkrebs oder Komplikationen am Auge sowie zu Behandlungsbeginn Herzrhythmusstörungen, sodass die Patienten diesbezüglich regelmässig untersucht werden müssen. Langzeitrisiken sind noch nicht ausreichend bekannt.
Multiple Sklerose ist Gegenstand intensiver Forschungen. Zahlreiche weitere, vielversprechende Substanzen sind in Studien in Erprobung, sodass davon auszugehen ist, dass in den nächsten Jahren weitere Medikamente zur Verfügung stehen werden. Somit kommt die Medizin dem Ziel näher – unter Berücksichtigung von Wirksamkeit, Verträglichkeit und Risiken – jedem Patienten eine individuell angepasste Therapie zu bieten, um das Schicksal einer zunehmenden Behinderung abzuwenden und die Lebensqualität zu erhalten.