Mangelernährung beeinflusst den Heilungsprozess negativ
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Im Oktober 2015 erlitt Hanna Marti, 76-jährig, nach einem Sturz zu Hause eine Schenkelhalsfraktur. Nach der operativen Versorgung und Überwachung auf der Intensivstation wurde Hanna Marti auf die Station mit integriertem AltersunfallZentrum verlegt. Der Pflegefachperson fallen die starke Appetitlosigkeit und die nicht gegessenen Mahlzeiten auf. Am interdisziplinären Rapport berichtet die Physiotherapeutin vom sehr langsamen Fortschritt der Patientin in der Bewegungsfähigkeit.
Die Ernährungsberaterin führt eine ernährungsmedizinische Abklärung durch. Hanna Marti schildert, bereits zu Hause wenig gegessen zu haben. Zum Frühstück Milchkaffe und Butterbrot, zum Mittag bei ihrer Tochter am liebsten Suppe, manchmal aber auch Rösti und Kartoffelstock mit Fleischsauce. Fleisch habe sie früher gerne gegessen, manchmal sogar Blutwürste. Heute nicht mehr. Gerne gönne sie sich nachmittags etwas Milch-Nussschokolade. Das Nachtessen sei ähnlich wie das Frühstück. Seit ihr Ehemann vor vier Jahren ins Altersheim musste, habe sie aufgehört zu kochen. Nur für sich alleine zu kochen, sei übertrieben. Durch die seit längerem bestehenden Rückenschmerzen hätte sie die Lust am Essen verloren. Mit 70 Jahren wog Hanna Marti noch 75 kg, die erste Gewichtsmessung in der Klinik betrug 66 kg. Hanna Marti hat eine erhebliche Energie- und Eiweissmangelernährung.
Mangelernährung ist ein Ernährungszustand, bei dem ein Mangel oder Ungleichgewicht an Mikro- und Makronährstoffe eine messbare Auswirkung auf Form und Funktion von Körper und Gewebe hat und den Heilungsverlauf negativ beeinflusst. Ein wichtiges Kriterium für die Diagnose Mangelernährung stellt unter anderem der ungewollte Gewichtsverlust dar. Mangelernährung kann bei Personen mit Unter-, Normal- oder Übergewicht vorkommen. In einer Akutklinik leiden durchschnittlich 20 % der Patienten unter Mangelernährung. Am häufigsten sind ältere und onkologische Patienten davon betroffen.
Eine unbehandelte Mangelernährung führt zu einer erhöhten Komplikations- und Sterberate und meist zu einem längeren Spitalaufenthalt. Die ungenügende Energiezufuhr führt bereits nach einigen Tagen zu relevanten Konsequenzen: Nach dem Leeren der Kohlenhydratspeicher werden das Fettgewebe und parallel die körpereigenen Proteine, also die Muskulatur, als verfügbare Energiequellen genutzt. Folgen davon sind beispielsweise ein geschwächtes Immunsystem mit einer erhöhten Infektionsrate, verzögerte Wundheilung, Muskelschwäche, schlechtere Befindlichkeit sowie Abnahme der Lebensqualität.
In der Klinik St. Anna erfasst die Pflegfachperson bei allen gefährdeten Patienten bei Spitaleintritt systematisch durch ein Kurztestverfahren das Risiko für eine Mangelernährung. Eine diagnostizierte Mangelernährung wird interdisziplinär behandelt. Die notwendige Ernährungstherapie wird durch die Ernährungsberatung zusammen mit der Pflege, den Ärzten und der Spitalküche durchgeführt. Wenn die orale Ernährung (was der Patient essen kann) nicht genügt, kann eine künstliche Ernährung in Form von Ergänzungsnahrung, Sondennahrung oder Nahrungsinfusionen notwendig sein.
Die Nährstoffversorgung von Hanna Marti betrug ca. 50% ihres Bedarfes. Bei ihr waren die Appetitlosigkeit, die Vereinsamung und die Polypharmazie (tägliche Einnahme von mehr als fünf Medikamenten) Faktoren, die zur Mangelernährung beigetragen haben.
In der Klinik wurde eine individuelle Essenbestellung mit Berücksichtigung persönlicher Vorlieben durch die Ernährungsberatung durchgeführt. Anstelle von Fleisch nahm Hanna Marti gerne Eierspeisen zum Mittagessen, Ovomaltine zum Frühstück und Brie zum Nachtessen. Das bestellte Essen wurde durch die Küche mit Maltodextrin, Eiweisspulver und Rapsöl angereichert. Hanna Marti bekam zum Zvieri ihre geliebte Nussschokolade und über den ganzen Tag ein orales Nahrungssupplement in Form eines eiweissreichen Shakes.
Der Appetit und die Geschmacksstörung verbesserten sich jedoch erst, nachdem am interdisziplinären Rapport entschieden wurde, die Medikamentenzufuhr zu reduzieren und die Schmerztherapie grundlegend umzustellen. Bei ihrem Übertritt in die Rehaklinik konnte Hanna Marti glücklicherweise 80 % ihres Energiebedarfes decken. Eine Weiterführung der begonnen Ernährungsmassnahmen während der Rehabilitation und zu Hause wurden Hanna Marti, ihrem persönlichem Umfeld, dem Hausarzt und den weiter betreuenden Teams empfohlen.