Entfernung von Hirntumoren: Funktionserhaltung sichert die Lebensqualität
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Die Geschichte der Hirntumorchirurgie umfasst mittlerweile über 100 Jahre. Dieses etablierte Teilgebiet der Neurochirurgie weist in letzter Zeit eine enorme Entwicklung auf und derartige Eingriffe gelten heute trotz der grossen emotionalen Betroffenheit der Patienten nicht mehr als aussergewöhnlich. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war bei fast jeder Hirntumoroperation das oberste Ziel, das Überleben des Patienten zu sichern. Heutzutage steht die Lebensqualität im Vordergrund, wobei nicht nur die Erhaltung der verschiedenen Hirnfunktionen nach der Operation, sondern auch eine Besserung der eventuell bestehenden, auf den Tumor zurückzuführenden Ausfälle erzielt werden soll.
Der Weg zur schonenden Behandlung wurde massgeblich durch die Fortschritte der chirurgischen Techniken geprägt. Während man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts extrem grosse Zugänge mit der Eröffnung fast der Hälfte der Schädeldecke geschaffen und die Ausschälung der Tumoren mit grossen Saugern oder speziellen Löffeln vorgenommen hat, haben sich in den 60er- und 70er-Jahren die mikrochirurgischen Operationstechniken entwickelt. Dank diesen begann man unter Verwendung eines Operationsmikroskopes mit speziellen Instrumenten und Verfahren Hirngewebe schonend zu operieren.
In den letzten 10 Jahren kam es nochmals zu einem massiven Entwicklungssprung im Bereich der Hirntumorchirurgie. Die Verwendung moderner Navigationssysteme ermöglicht heute, den Tumor millimetergenau zu lokalisieren und dadurch den Zugang minimalinvasiv zu gestalten. Die Schädeldecke wird nur so viel wie nötig, aber gleichzeitig so wenig wie möglich geöffnet. Zudem kann der Tumorknoten, unabhängig von seiner Lage oder Tiefe, sofort ohne «blinde» Suche im Hirngewebe gefunden werden.
Modernste Methoden der intraoperativen Bildgebung, wie Ultraschall, Computertomographie, Kernspintomographie oder Fluoreszenzsteuerung, erlauben dem Operateur, die maximal vertretbare Tumorentfernung zu erzielen, was für den weiteren Krankheitsverlauf des Patienten massgebend ist.
Wichtig bei der Tumorentfernung ist nicht nur die anatomische Wegnahme des krankhaften Gewebes, sondern auch die Funktion der umliegenden Hirnstrukturen zu erhalten. Das multimodale intraoperative Neuromonitoring erlaubt es, Areale mit wichtigen Hirnfunktionen genaustens zu identifizieren, diese wie auf einer Landkarte zu markieren und während der Operation laufend zu überwachen. Dadurch verringert sich das Risiko eines Fuktionsausfalls nach der Operation deutlich. Dieses Vorgehen darf als neuer Qualitätsanspruch und -standard in der Mikro-Neurochirurgie verstanden werden.
Nach einem epileptischen Krampfanfall und der anschliessenden Diagnose eines grossen, hirneigenen Tumors mit über sechs Zentimetern Durchmesser im linken Stirnlappen (Abb. 1) wurde eine 52-jährige Patientin zugewiesen. Kurze Zeit darauf erlitt die Patientin einen zweiten Krampfanfall, was rasch zur Operation führte.
Vor der Operation wurde eine spezielle MRI-Untersuchung durchgeführt, wobei Sprach- und Körpermotorikzonen identifiziert wurden. Dabei wurde festgestellt, dass der Tumor im hinteren und unteren Bereich an jene Hirngebiete angrenzte bzw. diese verdrängte, welche die Funktion der Fuss-, Hand- und Gesichtsmuskulatur steuern. Eine einfache, nur auf das Tumorgewebe ausgerichtete Entfernung hätte zur Folge gehabt, dass die Patientin nach der Operation eine Lähmung des rechten Fusses und der rechten Hand sowie aufgrund einer Lähmung der Gesichtsmuskulatur erhebliche Mühe beim Kauen und Sprechen davon- getragen hätte – Funktionen, die bis anhin trotz Tumor intakt waren.
Ein Funktionsverlust konnte dank intraoperativem Neuromonitoring vermieden werden: Unter Zuhilfenahme des chirurgischen Navigationssystems sind die Schädeldecke präzise geöffnet und die Tumorgrenzen genau lokalisiert worden. Zuerst wurde eine Elektrokortikographie (eine Hirnstrommessung direkt von der Hirnoberfläche) durchgeführt, wobei festgestellt wurde, dass ein epileptischer Entladungsherd am vorderen, unteren Tumorbereich lag – dieser hatte auch die Krampfanfälle ausgelöst. Mit speziellen Elektroden und Stimulatoren wurden anschliessend die an den Tumorrand angrenzenden Hirngebiete mit ihren funktionswichtigen Arealen identifiziert und die für die Motorik verantwortlichen Zonen – von Fuss, Oberschenkel, Hand, Schulter, Gesicht usw. – mit verschiedenen Nummern markiert. Diese wurden im Verlauf der Operation stimuliert und so fortlaufend überwacht.
Unter Schonung der definierten funktionellen Gebiete wurde der Tumor behutsam entfernt. Die anschliessende intraoperative Ultraschalluntersuchung zeigte kein tumorähnliches Gewebe innerhalb des Gehirns, was später nach der Operation mittels MRI-Untersuchung bestätigt wurde (Abb. 4). Zusätzlich zur Ultraschalluntersuchung wurde im Operationssaal eine zweite Elektrokortikographie angefertigt, die keine Krampfaktivität auf der Hirnoberfläche mehr zeigte.
Die Patientin wurde nach der Operation prompt wach, und es sind keine neurologischen Ausfälle, wie Lähmungen oder Sprechsstörungen, aufgetreten. Die Untersuchung des Tumorgewebes zeigte ein wenig aggressives Astrozytom, ein sogenanntes niedriggradiges Gliom, das keine onkologische Nachbehandlung benötigt. Im weiteren Verlauf traten auch keine epileptischen Anfälle mehr auf.
Dieses typische Fallbeispiel verdeutlicht, welch wichtige Rolle hochmoderne Technologien in der Mikro-Neurochirurgie spielen. Sie ermöglichen dem Operateur nicht nur, äusserst präzise anatomische Mikrochirurgie in sämtlichen Hirnarealen zu betreiben, sondern auch die Funktion dieser Areale klar zu identifizieren und zwecks Schonung während der Operation fortlaufend zu überwachen. Im Fall eines Hirntumors kann somit bei einer maximalen Tumorentfernung die Funktion erhalten werden, was für die Lebensqualität der Patienten nach der Operation entscheidend ist.
In Ihrer Zusammenarbeit nimmt das Neuromonitoring einen hohen Stellenwert ein. Ist dieses in der Neurochirurgie etabliert?
Evaldas Cesnulis (EC): Ja, das Neuromonitoring ist mittlerweile an vielen neurochirurgischen Kliniken weltweit etabliert. Aber es bestehen grosse Unterschiede in der Anwendung. Wir führen das modernste multimodale Neuromonitoring durch, bei welchem alle elektrophysiologischen Modalitäten kombiniert werden. Das heisst, während der Operation können die Funktionen mehrerer Hirnnerven, zum Beispiel der Gehör- und Augennerven sowie der Gesichts- und Schluckmuskeln, zusammen mit der Funktion der sogenannten langen Bahnen im Bereich des Hirnstamms aktiv überwacht und geschont werden. Hierzu braucht es hochpräzise Geräte sowie eine moderne Infrastruktur. In dieser komplexen Form wird intraoperatives Neuromonitoring sehr selten betrieben – darum spreche ich auch von einem neuen Qualitätsstandard.
Können Sie mir die Überwachung der Hirnareale während der OP schildern?
Mima Bjeljac (MB): In den sogenannten eloquenten, also den funktionell relevanten Hirnregionen, muss beim Entfernen des Tumors unbedingt vermieden werden, dass die Motorik- oder Sprachregionen berührt werden, da die Patienten sonst nach der Operation neurologische Ausfälle haben können. Das Neuromonitoring erlaubt es, diese Areale genau zu definieren und eine Art «Landkarte», ein kortikales Mapping, der wichtigen Hirnfunktionen zu erstellen. Während der Operation werden die markierten Regionen über spezielle Elektroden mit einer sehr niedrigen Stromintensität wiederholt gereizt, sodass in der Peripherie – im Gesicht, am Arm oder Bein – die Reaktion darauf abgeleitet werden kann. Wenn die Signale schwächer werden oder ganz ausfallen, muss die Operationsstrategie geändert werden. Das Wichtigste ist, die Signale richtig zu interpretieren und frühzeitig an mögliche Konsequenzen zu denken. Dies benötigt sehr viel Erfahrung. Der Patient erhält im Rahmen des intraoperativen Monitorings auch eine spezielle Narkose ohne Muskelrelaxation.
Und wenn Sie zu nahe an eine kritische Zone kommen?
EC: Das ist sehr selten. Es ist wie bei einem Kabel: Sie werden auch nicht hingehen und dieses mit einer Schere einfach durchschneiden. Meistens berührt man das Gewebe oder es wird gezielt gereizt, sodass man die Veränderung bereits früh erkennt. Dann operiere ich sanfter oder lege eine Pause ein, damit die Mikrodurchblutung gewährleistet bleibt. Irreversible Störungen können so vermieden werden.
Sie sprechen von sanfter operieren. Wie kann ich das verstehen?
EC: Das bedeutet beispielsweise, dass wir das Gewebe mit weniger Strom gerinnen lassen oder dass wir für die Blutstillung Watte verwenden und weniger absaugen.
Nicht alle Tumoren sind gut abgegrenzt. Was geschieht, wenn ein Tumor eine Hirnfunktion nicht nur tangiert, sondern diese überlagert oder durchdringt?
MB: Viele Tumoren liegen ausserhalb des Gehirns, verursachen aber einen Druck. Hirneigene Tumoren sind häufig scharf abgegrenzt, wie in unserem Fallbeispiel. Unscharf abgegrenzte Tumoren sind mit den umliegenden Strukturen verflochten; hier ist das Neuromonitoring von entscheidender Bedeutung. Wir entscheiden dann während der OP, ob wir den Tumor gänzlich entfernen können oder aber einen Teil belassen, um die Funktion nicht zu gefährden. Im Gegensatz zu früher ist heutzutage der Erhalt der Funktion immer das oberste Ziel.
Wie wird der Tumor entfernt?
EC: Für die Operation verwenden wir ein Gerät mit einer langen, feinen Spitze, das so dünn ist wie ein Kugelschreiber. Über dieses Gerät können Ultraschallwellen erzeugt werden, die den Tumor verflüssigen; es gibt Wasser zum Spülen ab und verfügt über ein Röhrchen zum Absaugen. Das zählt heute zum Standard in der Mikrochirurgie.
Ist der Patient während der OP wach bzw. ansprechbar?
MB: Nur, wenn der Tumor in der Nähe der sprachrelevanten Hirnareale liegt. In diesem Fall sind die Patienten während der ganzen Operation wach und werden in Bezug auf Aussprache, Sprachproduktion und Sprachverständnis durch Stromstimulation laufend getestet.
Wird das intraoperative Neuromonitoring nur bei Hirntumoren oder aber auch bei Tumoren an der Wirbelsäule eingesetzt?
EC: Ja klar, hier ist es noch wichtiger als beim Gehirn. Das Gehirn ist sehr gross, das Rückenmark hat hingegen einen Durchmesser, der viel kleiner ist als ein Kugelschreiber. Hier wird keine Kartographie wie beim Gehirn gemacht, sondern die Funktion der motorischen und sensiblen Fasern im Rückenmark überwacht. Das Neuromonitoring hilft auch dort, sanfter zu operieren oder Pausen einzulegen, um die den Tumor umgebenden Strukturen nicht irreversibel zu verletzen. Das ist sehr wichtig.
Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.