Plädoyer für eine gesunde und starke Blase
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Inkontinenz – so häufig wie Bluthochdruck. Aber keiner spricht darüber, aus Angst und aus Scham. Dabei haben sich das Wissen und die Behandlungsmöglichkeiten in den letzten Jahren enorm weiterentwickelt, sodass eine effektive Therapie der Blasenstörung und der Inkontinenz bei fast allen Betroffenen möglich ist und deren Lebensqualität stark verbessert.
Der regelmässige Gang zur Toilette ist eine gewohnte, alltägliche Erfahrung. Dabei kommt jeder Mensch zunächst inkontinent zur Welt. Die Ausscheidung von Harn willentlich zu kontrollieren, erlernt ein Kleinkind im Alter von zwei bis fünf Jahren durch die Entwicklung von Gehirnzentren und Nervenbahnen sowie die Erziehung zur Sauberkeit. Spätestens in der Schule gilt die Kontinenz als gesellschaftlich geforderte Norm.
Über viele Jahrzehnte funktioniert die Blase bei den meisten dann auch, ohne weiter aufzufallen. Entsprechend gering sind das Interesse am und das Wissen über den Harntrakt und seine Funktion. Viele Menschen stellen sich den Vorgang des Wasserlösens wie die Entleerung eines Behälters oder Tanks vor. Tatsächlich ist es aber ein kompliziertes Mess- und Regelsystem, welches aus der Blasenentleerung einen präzis gesteuerten Vorgang macht. Der untere Harntrakt besteht aus der Harnblase und den Schliessmuskeln. Ein Netzwerk aus vegetativen und willkürlich steuerbaren Nervenbahnen ermöglicht es Blase und Schliessmuskel, zwei im Grunde gegensätzliche Funktionen ausführen zu können: einerseits die Speicherung von Urin über mehrere Stunden unter Wahrung eines wasserdichten Verschlusses und anderseits die vollständige Entleerung der Blase an einem willkürlich bestimmten und von der Umgebung akzeptierten Ort und Zeitpunkt.
Erst wenn Probleme beim Wasserlösen oder ein unfreiwilliger Harnverlust auftreten, rückt die Blase in den Fokus der Aufmerksamkeit der Betroffenen. Für viele Menschen ist das unfreiwillige Verlieren von Urin eine sehr einschneidende Erfahrung, die viele Bereiche des täglichen Lebens negativ beeinträchtigt, so etwa Familie, Arbeit, Freizeit, Sexualität, Psyche und diverse Gesundheitsaspekte des Körpers. Von Störungen der Harntraktfunktion oder einer Harninkontinenz sind weltweit viele Millionen Frauen und Männer betroffen. Treffen kann es jeden. Etwa jeder fünfte Erwachsene ist im Laufe seines Lebens von einer Blasenfunktionsstörung mit oder ohne begleitende Inkontinenz betroffen. Damit steht die Störung der Blasenfunktion in der vordersten Reihe der Volkskrankheiten, gleichauf mit Bluthochdruck, Rheuma, Rücken- oder Herzerkrankungen.
Für die Lebensqualität eines Betroffenen ist dabei eine Harninkontinenz wesentlich einschränkender als beispielsweise ein erhöhter Blutdruck, dennoch findet das Thema in der öffentlichen Wahrnehmung kaum Beachtung. Wie oft bei tabuisierten und schambesetzten Leiden fehlen genaue Zahlen über die Anzahl der Betroffenen, zudem ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. In den mittleren Jahren von 40 bis 60 sind Frauen häufiger betroffen, vom sechzigsten Lebensjahr an liegen ältere Frauen und Männer nahezu gleichauf. Generell steigt das Risiko einer Blasenfunktionsstörung bei beiden Geschlechtern mit zunehmendem Alter. Dabei ist eine Harninkontinenz kein unausweichliches Schicksal, auch Hundertjährige können zu 100% kontinent sein.
Ungewollter Urinverlust ist für jeden betroffenen Menschen – unabhängig von Alter und Geschlecht – eine schwerwiegende Beeinträchtigung. Dennoch vergehen meist Monate oder gar Jahre bis zur ersten Konsultation bei einem Arzt. Scham, Angst vor Unverständnis und die sich hartnäckig haltende Vorstellung, man könne nichts dagegen unternehmen, verzögern nicht selten eine rasche Abklärung und Behandlung des Problems.
Eine Harninkontinenz oder eine Störung der Blasenfunktion beeinträchtigt empfindlich das tägliche Leben. So etwa die überaktive oder schmerzhafte Harnblase, die Betroffene zu Sklaven ihrer Blase werden lässt. Jede zweite Frau bemerkt nach dem fünfzigsten Lebensjahr eine Harninkontinenz unter körperlicher Belastung, etwa beim Husten oder beim Sport. Männer in diesem Alter plagt die Prostata mit häufigem Harndrang und lästigem nächtlichem Wasserlösen. Nach einer Operation der Prostata ist ein unfreiwilliger Harnverlust oft das grösste Problem. Erkrankungen des Nervensystems, wie die Multiple Sklerose, der Schlaganfall oder die Parkinson-Krankheit, können Auslöser einer Störung der Blasenfunktion oder einer Inkontinenz sein. Bei vielen Betroffenen schränken nicht die klassischen Symptome der Krankheit die Lebensqualität ein, sondern vielmehr die Probleme der Blase und die Inkontinenz.
Die Störungen der Blasenfunktion und die Harninkontinenz sind Volkskrankheiten, die angemessen abgeklärt und behandelt werden sollten. Leider oftmals von Betroffenen schamvoll verschwiegen und seitens vieler Ärzte und Therapeuten ignoriert, stehen die Probleme mit der Harnblase nicht selten im medizinischen Abseits. Dank einem enormen Zuwachs an Wissen in den letzten Jahren ist eine effektive Behandlung der Blasenstörung und der Inkontinenz bei fast allen Betroffenen möglich; so können Komplikationen, wie Harnweginfekte und Schäden an der Blase und den Nieren, vermieden werden.
Als Basis für eine erfolgreiche Behandlung von Störungen der Harnblasen- und Schliessmuskelfunktion dient eine umfassende Abklärung der Beschwerden mit Hilfe von Funktionsuntersuchungen des Harntraktes, des Beckenbodens und der Beckennerven, inklusive Röntgen, Ultraschall und Endoskopie.
Die Behandlung kann konservative wie auch operative Verfahren umfassen. Zu den konservativen zählen die medikamentöse Therapie, die elektromotorisch unterstützten Instillationsbehandlungen der Harnblase, das Biofeedback-Training, die intravesikale Elektrostimulation, die Beckenbodentherapie, die funktionelle Stimulation des Beckenbodens, die temporäre Neuromodulation mit Hilfe von Oberflächenelektroden sowie eine umfassende Inkontinenzberatung und Hilfsmittelversorgung.
Als operative Behandlungsverfahren werden die Injektionsbehandlung des Blasenmuskels und des Schliessmuskels mit Botulinumtoxin, ein breites Spektrum an Operationsverfahren zur Therapie der Harninkontinenz sowie verschiedene Methoden der Nervenstimulation von Blase und Beckenboden eingesetzt.
Eine umfassende, individuelle Beurteilung einer Vielzahl von Beschwerden und Störungen ist notwendig, um eine erfolgversprechende Behandlung zu erzielen. Dabei steht der ganze Mensch im Mittelpunkt. Sowohl bei der Abklärung als auch bei der Behandlung der Beschwerden sollten die persönlichen Bedürfnisse, Wünsche und Fähigkeiten jedes Einzelnen berücksichtigt und gemeinsam mit ihm und seinen Angehörigen eine Behandlungsstrategie erarbeitet werden.