Elena Boetschi ist Co-Teamleiterin Pflege Notfallaufnahme in der Klinik Stephanshorn in St. Gallen, hat 2022 die Ausbildung zur Hypnosetherapeutin und 2024 zur HypnoNurse-Instruktorin bei OMNI Hypnosis absolviert. Seither wendet sie Hypnose nicht nur in ihrem Alltag in der Pflege konsequent an, sondern bildet bereits Kolleginnen und Kollegen zur HypnoNurse und im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements in Selbsthypnose aus. Im Interview erklärt sie, wie Hypnose in der Pflege angewendet wird, welche erstaunlichen Resultate damit erzielt werden können und weshalb sich Medizin und Hypnose optimal ergänzen.
Frau Boetschi, können Sie uns erklären, was Hypnose ist?
Hypnose bedeutet, einer Person den Zugang zu ihrem Unterbewusstsein zu ermöglichen. In der Pflege geht es oft darum, die Selbstwirksamkeit der Patientinnen und Patienten zu fördern. Ist eine Person in Hypnose, ist sie entspannt und konzentriert, nimmt aber die Umgebung weiterhin aktiv wahr und kann mit ihr interagieren. Sie kann jederzeit die Augen öffnen oder aufstehen, und sie hört alles, was wir sprechen. Damit Hypnose wirkt, sind wir auf das Einverständnis und die Mithilfe der Patientinnen und Patienten angewiesen. Wir können nichts gegen ihren Willen tun und niemanden manipulieren, das ist ganz wichtig.
Was hat Sie zu dieser Zusatzausbildung veranlasst?
Im Kaderseminar 2022 der Klinik Stephanshorn stellten Referenten von OMNI das Konzept HypnoNurse® vor. Es integriert Hypnose in der Pflege und hilft, das Wohlbefinden der Patientinnen und Patienten zu steigern und Heilungsprozesse zu unterstützen. OMNI bietet eine professionelle Hypnoseausbildung und Weiterbildung in über 20 Ländern an. Dieser Vortrag hat mich sofort inspiriert, ich wollte mehr über das Thema erfahren. Die Kombination von Medizin und Hypnose fand ich sehr spannend. Kurz danach absolvierte ich die Ausbildung zur Hypnosetherapeutin. Während der Ausbildung habe ich live erlebt, was Hypnose alles bewirken kann, und ich war restlos begeistert. Danach habe ich die Ausbildung zur HypnoNurse® und weitere Ausbildungen in diesem Bereich gemacht.
Wie und wann kommt Hypnose in der Pflege zum Einsatz?
Es gibt verschiedene Einsatzbereiche. Was ich täglich und in beinahe jedem Moment, in dem ich spreche, anwende, ist die hypnotische Kommunikation und die Wachhypnose. Hypnotische Kommunikation bedeutet, gezielt sprachliche Techniken zu nutzen, um positive Suggestionen ins Unterbewusstsein einer Person zu bringen. Wachhypnose ist eine Technik, bei der Suggestionen noch direkter ins Unterbewusstsein gegeben werden können, ohne dass der Patient oder die Patientin in einen tieferen hypnotischen Zustand kommen muss.
Sie sprechen also anders als früher?
Ja, das kann man so sagen (lacht). Ich habe selbstverständlich schon vor der Hypnose-Ausbildung mit Patientinnen und Patienten gesprochen. In der Hypnose-Ausbildung habe ich aber gelernt, was Worte auslösen können und mir eine etwas andere Wortwahl angeeignet. Seither wende ich die hypnotische Kommunikation permanent an. Ich mache Ihnen ein Beispiel: Wörter wie «versuchen», «probieren» oder «hoffen» lasse ich weg. Ich sage nicht: Ich versuche, Ihnen eine Infusion zu legen. Oder auch nicht: Hoffentlich wirkt das Schmerzmittel. Sondern: Ich gebe Ihnen jetzt ein Schmerzmittel, das die Schmerzen lindert. Das ist sowohl für den Patienten als auch für mich eine andere Information. Wir lernen in der Ausbildung, Sätze so umzuformulieren, dass wir positive Wörter wählen, ohne etwas zu versprechen. Das ist ein Umlernen, das etwas Zeit braucht, aber einen grossen Unterschied macht.
Gibt es noch weitere Einsatzbereiche der Hypnose?
Ja, wir können mit Hypnose Schmerzen oder Ängste lindern, Funktionen verringern und kleine Lokalanästhesien weglassen oder erleichtern. In der Notfallaufnahme habe ich meist keine Zeit, um Patientinnen und Patienten über Hypnose vollständig aufzuklären. Ich umschreibe dann die Hypnose und sage zum Beispiel, dass es sich um eine Mental- oder Entspannungsübung handelt. Damit ich arbeiten kann, brauche ich die Zustimmung meines Gegenübers, denn ich kann nichts gegen den Willen einer Person tun.
Können Sie das Weglassen der Lokalanästhesie ausführen?
Dazu fällt mir das Beispiel einer jungen Volleyballerin ein, die sich den Finger luxiert (ausgerenkt) hatte. Sie hatte starke Schmerzen und war in Tränen aufgelöst. Ich fragte sie, ob sie lieber an einem anderen Ort wäre und welcher Ort das wäre. Als sie bejahte, fragte ich sie, ob ich ihr helfen solle, an diesen Ort zu gelangen. Sie war einverstanden. Ich habe sie mit Worten angeleitet, und zwei Minuten später konnten wir den Finger wieder einrenken, ohne 10 Minuten zu warten, bis die Lokalanästhesie gewirkt hätte. Es ging sehr schnell. Die Patientin hat nicht viel davon mitbekommen. Dieses Beispiel zeigt gut, wie meine Fragen wirken. Ich mache nie etwas ohne das Einverständnis meines Gegenübers.
Wie gehen Sie vor, damit Patientinnen und Patienten die Schmerzen nicht spüren?
Ich mache eine standardisierte Hypnoseeinleitung über Worte, damit die Patientin oder der Patient zuerst einmal ins Unterbewusstsein kommt. In der Notaufnahme sind Patientinnen und Patienten oft schon in einem Zustand, in dem sie einen guten Zugang zum Unterbewusstsein haben, denn die Emotionen sind in dieser Situation meist sehr stark. Es gibt gewisse Anzeichen, an denen ich erkenne, in welchem Zustand ein Patient ist und ob er schon dort ist, wo die Technik wirken kann. Dann gibt es verschiedene Methoden. Man kann beispielsweise eine Körperstelle taub und unempfindlich machen und dadurch die Situation für Patienten stark erleichtern. Der Patient spürt zwar sehr wohl, dass beispielsweise an seiner Hand etwas gemacht wird, aber es stört ihn nicht. Oft begleite ich Patienten auch gedanklich an einen Ort, an dem sie lieber wären als in der Notaufnahme. Bei vielen ist es der Strand, das Meer oder die Berge. Um einen guten Zugang zum Unterbewusstsein zu haben, ist es wichtig, möglichst viele Sinne zu aktivieren. Deshalb bitte ich Patienten, sich vorzustellen, wie es am gewünschten Ort riecht, welches Lieblingsessen sie vielleicht am Meer essen oder ob sie das Wasser spüren, das ihnen um die Füsse schmeichelt. Es geht darum, Schönes zu fokussieren.
Würden Sie sagen, Sie erzielen bessere Resultate durch Hypnose?
Ja, auf jeden Fall. Unsere HypnoNurses® haben im vergangenen Jahr eine Patientenumfrage gemacht. Es hat sich gezeigt, dass wir bei unseren Patientinnen und Patienten durch die hypnotische Kommunikation und die Wachhypnose ein um 40 Prozent besseres Wohlbefinden erzielen. Das ist ein sehr schönes Resultat.
Besonders gefällt mir, Patientinnen und Patienten durch Hypnose mehr Selbstwirksamkeit zu ermöglichen. Viele fühlen sich in der Klinik ausgeliefert. Mit kleinen Techniken, die man ihnen an die Hand gibt, zum Beispiel um Schmerzen zu lindern, können sie ihre Situation selbst verbessern und dazu beitragen, gesund zu werden. Das nimmt vielen die Hilflosigkeit, die sie in der Klinik verspüren.
Gibt es Situationen, in denen man Hypnose auf keinen Fall anwenden darf? Welche sind das?
Wenn das Gegenüber Nein sagt zur Hypnose. Ich missioniere nicht und respektiere ein Nein. Ich biete Hypnose an, aber ohne Zwang und Nachteil für den Patienten, wenn er sich nicht darauf einlassen möchte.
Oft ist die Fremdsprache eine Herausforderung. Wenn mich mein Gegenüber nicht versteht, bin ich limitiert mit den Techniken. Vorsichtig sind wir bei Patientinnen und Patienten mit psychischen Vorerkrankungen oder wenn sie alkoholisiert sind oder Drogen genommen haben. Eine Entspannungshypnose kann ich mit ihnen machen, aber andere Techniken wende ich nicht an.
Wie offen sind Patientinnen und Patienten gegenüber Hypnose? Müssen Sie jeweils Überzeugungsarbeit leisten?
Patientinnen und Patienten sind sehr offen, ich war zu Beginn richtiggehend erstaunt. Im ersten Jahr habe ich sehr viel Aufklärungsarbeit geleistet und erklärt, was Hypnose ist. Das Thema wurde in den Medien und in der Gesellschaft immer stärker wahrgenommen. Der Begriff ist zwar immer noch eher negativ behaftet, aber viele Leute haben sich schon damit auseinandergesetzt oder kennen jemanden, der in einer Hypnosetherapie war. Das erlebe ich oft. Die meisten Patientinnen und Patienten sind neugierig und probieren es gerne aus.
Hatten Sie schon einmal ein besonders eindrückliches Erlebnis mit einer Patientin oder einem Patienten?
Ja, schon viele. Ein Beispiel, das die Kraft der Worte gut veranschaulicht, bleibt mir besonders im Gedächtnis. Eine Frau stürzte aus 2 m Höhe und schlug sich den Kopf an. Sie sass bei mir in der Triage und hatte ein starkes Bedürfnis, die Augen zu schliessen. Ich habe sie ermutigt, auf ihren Körper zu hören. Wenn er das brauche, solle sie das ruhig tun. Der Körper brauche nach dem Sturz auch einen Moment, um sich neu zu sortieren. Dieser letzte Satz hat der Frau sehr geholfen und sie hat sich beim Verlassen der Notfallstation dafür bedankt. Es habe sie bestätigt, auf ihren Körper zu hören.
Einmal hatten wir einen Patienten, dem wir aufgrund von Leber- und Nierenfunktionsstörungen nur sehr eingeschränkt Medikamente gegen seine Schmerzen geben konnten. Ich bot ihm Hypnose an und wir konnten seine Schmerzen drastisch senken. Der Patient war sehr erleichtert. Es ist ein schönes Beispiel dafür, wie wir – auch bei medizinischen Einschränkungen – noch andere Möglichkeiten nutzen können. Das nimmt uns unsere eigene Hilflosigkeit, die wir in solchen Fällen manchmal spüren.
Sie bilden innerhalb der Hirslanden Klinik Stephanshorn auch Pflegefachpersonen zur HypnoNurse® aus und schulen Mitarbeitende im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements in Hypnose. Wie ist es dazu gekommen?
Unsere Klinik steht neuen Ansätzen offen gegenüber – das wusste ich bereits durch das OMNI-Referat im Kaderseminar. Nach Abschluss des HypnoNurse®-Kurses durfte ich der Geschäftsleitung vorstellen, was HypnoNurse® ist und bewirkt. Daraufhin genehmigte sie ein Pilotprojekt für 2024. Im Anschluss führten wir die bereits erwähnte Patientenumfrage durch. Zudem führte ich eine Umfrage bei den ausgebildeten HypnoNurses® durch. Aufgrund der äusserst positiven Umfrage-Ergebnisse erhielten wir grünes Licht für einen zweiten Kurs, der im April 2025 startet.
Welche Erfahrungen haben Sie in den internen Weiterbildungen gemacht? Und wie gross ist die Nachfrage?
Die Nachfrage ist sehr gross. Wir stellten die erste Ausbildung an zwei Info-Nachmittagen vor, inklusive Fragerunden. Im ersten Kurs nahmen 11 Personen teil und ich führte eine Warteliste für den nächsten Kurs. Der zweite Kurs war innerhalb einer Woche ausgebucht. Für einen dritten Kurs 2026 führe ich ebenfalls schon wieder eine Warteliste.
Was spannend ist: Obwohl die Tage während der Ausbildung sehr lang sind – mehr als die üblichen 8.5 Stunden – schauen die Teilnehmenden nie auf die Uhr. Man merkt, wie die Faszination für das Thema um sich greift. Denn es ist sehr faszinierend, wenn man lernt, mit dem eigenen Unterbewusstsein zu arbeiten, wie man damit andere unterstützen kann und was man dadurch erreicht.
Ein wichtiger Teil der HypnoNurse®-Ausbildung ist die Selbsthypnose. Der Beruf von Pflegenden ist intensiv, und mit der Selbsthypnose hat man ein wunderbares Tool an der Hand, das schnelle Erholung ermöglicht. Es hilft, Emotionen zu verarbeiten und gibt Energie für das Privatleben und so vieles mehr. Das ist wichtig, denn die meisten von uns arbeiten viel und oft auch im Schichtbetrieb.
Und was möchten Sie den Leserinnen und Lesern zum Schluss mit auf den Weg geben?
Medizin und Hypnose stehen nicht in Konkurrenz, sondern ergänzen sich perfekt. So können wir das Level der Qualität, das sowieso schon hoch ist, nochmals erheblich steigern.